In vielen Tages-Zeitungen und Zeitschriften überschlagen sich die Artikel und Kommentare da der Bundesgerichtshof das Selbsthilferecht eines Grundstücksnachbarn nach § 910 Abs. 1 BGB deutlich gestärkt hat. Allein die Begründung, dass die Beseitigung des Überhangs das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht, hielt der rechtlichen Nachprüfung durch den BGH nicht stand [1].
So entschieden vorher mehrere Oberlandesgerichte anders und allein die begründete Gefahr, dass die Beseitigung des Überhangs zum Absterben des Baumes oder zu einer erhöhten Risikolage führte, schloss die Beseitigung aus [2]. Dies führte regelmäßig zu absurden Beweisfragen für Sachverständige, die nicht etwa den Überhang in Bezug zur Grundstücksbeeinträchtigung der Nachbarn beschreiben sollten, sondern „nur“ festzustellen hatten, ob der Baum durch den geforderten Rückschnitt abstirbt oder standunsicher würde. Aus Sicht der Juristen nachvollziehbar, da es der vermeintlich einfachste Weg zur Klärung war. Faktisch jedoch ein Blick in die Glaskugel, denn sogar durch die völlig fachfremde seitliche Kappung aller Äste stirbt ein Baum i.d.R. nicht und die unmittelbar kausale Standunsicherheit lässt sich statisch kaum darstellen.
Der SV musste immer einen auf den Schnitt folgenden letalen Faktor wie Sonnenbrand, eindringende Pathogene oder anderes hinzunehmen. Bei einer Linde wird das schwierig sein und Sachverständige könnten dazu neigen, die tatsächliche Letalität überzubewerten! Für einen anderen Sachverständigen (z.B. aus dem Fachbetrieb, der die Maßnahme vornehmen soll) ist es sehr leicht, solche hypothetischen Zukunftsannahmen zu entkräften und schon liegt ein Sachverständigenstreit vor.
Kaum ein Baumpfleger wagt sich einfach so an überhängende Äste von Nachbarbäumen des Kunden. Aber häufiger als man annimmt, kommt genau dies vor. Sei es, dass der Kunde das Einverständnis des Nachbarn versichert, oder dass anders argumentiert wird – die Selbstvornahme kann der Laie oft gar nicht selbst umsetzen. Führte nun diese Selbstvornahme durch einen Dritten zum Streit, war der Baumpfleger schnell im Fokus. Besonders wenn ein Gerichtsgutachter den letalen Baumschaden feststellt, schultert der Baumpfleger plötzlich den Sach-Schaden am Baum!
In dem vom BGH geprüften Fall geht es um einen Kläger als Baumeigentümer, der von dem Beklagten Nachbarn verlangte, es zu unterlassen, von seiner Kiefer oberhalb von fünf Metern überhängende Zweige abzuschneiden.
Dieser Fall liegt nun wieder beim Berufungsgericht des LG Berlin und der BGH verweist ausdrücklich auf seine Senatsentscheidung, dass die Duldungspflicht des Überhanges allein nach Maßstäben von § 910 Abs. 2 BGB – auch für die von den herüberhängenden Zweigen ausgehende Beeinträchtigung durch Laub-, Nadel und Zapfenabfall [3] – geprüft werden muss. Das LG Berlin hat schlicht versäumt, eine Feststellung zur objektiven Beeinträchtigung durch die überhängenden Zweige zu treffen, was bei einem Überhang in über 5 m Höhe zumindest schwer zu argumentieren ist.
Unter dem Strich wird mit dem BGH-Urteil die tatsächliche Nutzungsbeeinträchtigung durch den Überhang wieder in den Fokus gerückt.
„Ich habe ja nichts gegen Bäume, aber dieser...!“ Grenznahe Bäume und insbesondere der Überhang sind regelmäßig Streitgegenstand. Gleich, ob die Maßstäbe den §§ 906, 910 oder 1004 BGB entnommen werden, sind naturschutzrechtliche und behördliche Beschränkungen höher gestellt. Ist die Entfernung des Überhanges mit Blick auf naturschutzrechtliche Regelungen, z.B. eine Baumschutzsatzung zu bewerten, vereinfacht sich die Einschätzung deutlich. Baumschutzsatzungen beschreiben sehr viel genauer und für alle – dem Baumeigentümer genauso wie dem Nachbarn – welche Schnittmaßnahmen verboten sind oder verweisen auf Richtlinien.
Bäume leisten besonders im urbanen Raum enormes, dienen der Luftreinigung, kühlen das Stadtklima und bewirken Ruhe sowie Erholung. Reduziert man den Baumbestand in einem Stadtteil wesentlich, dann fallen dort die Immobilienwerte. Anders herum finden sich die höheren Immobilienwerte in Gegenden mit einem alten und gut gepflegten Baumbestand.
Gleichzeitig werden die Grundstücke aber immer kleiner und Bäume stehen plötzlich unmittelbar grenznah.
Es ist völlig unverständlich, warum sich Lokalpolitikerinnen und Lokalpolitiker noch immer um eine vernünftige Baumschutzsatzung zieren und wie es sein kann, dass sogar bestehende Satzungen aufgehoben werden. Gerne wird die Selbstverantwortung von Baumeigentümern genannt und der liberale Gedanke, dass jeder selbst entscheiden dürfe, was er mit seinem Grundstück macht. Hiergenanntes Urteil zeigt deutlich, dass eine Baumschutzsatzung nicht nur den Baumeigentümer in seinen Rechten einschränkt, sondern ihn auch bei dem Erhalt seines Baumes unterstützt.
Zuletzt können Satzungen vor ungewolltem Nachbarstreit schützen. Es muss eine gehörige Beratungsresistenz vorliegen, denn weder ökonomische noch ökologische Gesichtspunkte begründen vernünftige, sachliche Einwände gegen eine Baumschutzsatzung.
[1] BGH, Urteil vom 11. Juni 2021 – V ZR 234/19 –, juris
[2] OLG Köln, Urteil vom 12. Juli 2011 – I-4 U 18/10 –, juris
[3] BGH, Urteil vom 14. Juni 2019 – V ZR 102/18 –, juris
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